»In der Tat muss man sich in Paris große Mühe geben, den Eiffelturm nicht zu sehen. Zu welcher Jahreszeit es auch sei, an trüben Tagen, bei Nebel, Wolken, Regen, Sonnenschein, an welchem Punkt man sich auch befindet, durch welche Landschaft von Dächern, Kuppeln, Baumwipfeln man auch von ihm getrennt ist, der Eiffelturm ist da […]«, konstatiert Roland Barthes gleich zu Beginn seines 1964 erschienenen Essays La Tour Eiffel.1 Und: »Kaum ein Pariser, dessen Blick zu irgendeinem Zeitpunkt des Tages nicht von ihm getroffen wird.« Der Eiffelturm, das Relikt der Weltausstellung von 1889, ist für Barthes also ein Objekt, das zugleich gesehen wird und selbst blickt, und in diesem Transfer würde »jenes Paris, das vorhin ihn betrachtete, zu einem zugleich ausgedehnten und versammelten Objekt«.2
Für die in Paris entstandene und in diesem Buch abgebildete Arbeit Katja Stukes und Oliver Siebers ist dieser »blickende Eiffelturm« zentral, denn die Künstler:innen fungieren gewissermaßen als dessen Blickverstärker:innen, indem sie seine (imaginäre) Blickrichtung an bestimmten, entlang der Pariser Stadtautobahn, des Boulevard Périphérique, gelegenen Punkten aufgreifen und wie Close-Ups in die Vororte weiterführen, die vom Eiffelturm aus bereits in weiter Ferne liegen. Die Punkte, an denen ihre Fotografien entstanden sind, erreichen sie mit der Métro, die hier bis auf wenige Ausnahmen endet.
Die Bezeichnungen der aufgesuchten Orte finden sich in Gestalt einer typografischen Karte, die die ringförmige Struktur des Périphérique aufgreift, auf der ersten Doppelseite dieses Buchs. Das hier abgebildete kartografische Modell bildet zugleich die Grundlage für die Verknüpfung von Paris und dem Ruhrgebiet, die es über 244 Seiten auffächert. In diesem Modell wurde einem Ort in Paris jeweils ein Ort zur Seite gestellt, der auf das Ruhrgebiet referiert, zum Beispiel Porte Maillot / Essen Altenessen oder Porte de la Chapelle / Gelsenkirchen Mitte. Im Zwischenraum findet sich ein einzelnes Wortpaar: Tour Eiffel / Zollverein.
Die Verpartnerung dieser beiden Monumente begründet sich auf einer
(in Deutschland) medial weithin zirkulierenden Vergleichsrhetorik, die die Zeche Zollverein als »Eiffelturm des Ruhrgebiets« zu vermitteln ersucht.3 Im Prozess der räumlichen Übertragung des in Paris entwickelten kartografischen Rasters auf das Ruhrgebiet fungiert diese inszenatorische Behauptung als Fixpunkt für die Definition eines darum herum verlaufenden »imaginären Périphériques«, entlang welchem Katja Stuke und Oliver Sieber sich nun bewegen. Die aufgesuchten Orte sind in diesem System willkürlich. Es sind randomisierte Fragmente der Stadt, auf denen sich die Erfahrung derselben nun begründet. 4
Im Gegensatz zu Paris, wo der Eiffelturm stets im Rücken lag und der Blick vom Zentrum weg führte, richten die Künstler:innen alle im Ruhrgebiet aufgesuchten Orte auf die im Norden Essens gelegene Zeche Zollverein aus.5 Allerdings bleibt auch dieses Bauwerk auf den Fotografien unsichtbar. In dieser Entscheidung steckt, so lässt sich folgern, ein politischer Gedanke, der das relational-asymmetrische Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie adressiert.6 Anders als in Paris, wo die monozentralistische Prägung bis heute wahrnehmbar ist, auch wenn sich die Stadt natürlich längst in multiple Zentren ausdifferenziert hat,7 sind im polyzentrisch strukturierten Ruhrgebiet multiple innere Ränder wahrnehmbar, sowohl zwischen als auch innerhalb der Städte, die ihm angehören.8
Es verwundert also nicht, dass sich Katja Stuke und Oliver Sieber ihren Foto-
grafien nach im Ruhrgebiet vor allem durch Gegenden bewegen, die weniger belebt wirken, durch Wohnsiedlungen, Parkanlagen oder bisweilen menschenleere Straßen, die eher an Stadtrand-gebiete erinnern. Vor dem Hintergrund des in Paris entstandenen Teils der Peripheren lesen sie sich wie eine weitere Verlängerung der vom Eiffelturm aus gezogenen Blickachse. Bildeten in Paris noch viel frequentierte Orte des Transits zwischen Zentrum und Peripherie den Gegenstand des Interesses, die entlang des Périphérique gelegenen »Portes«, die als verkehrstechnische Einlösung des französischen Zentralismus die Hauptstadt mit dem Rest des Landes verbinden, führen sie nun weiter – aber nicht in die Banlieus, sondern in die benachteiligten Städte und Stadtteile des nördlichen Ruhrgebiets. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die bereits erwähnte Karte im Buch genordet ist, und dass sich zugleich die politischen Konnotationen dieser kartografischen Konvention umzukehren scheinen, wenn man das sozioökonomische Nord-Süd-Gefälle bedenkt, das sich durch das Ruhrgebiet zieht.9
In zahlreichen Arbeiten von Katja Stuke und Oliver Sieber ist dieses Interesse an
marginalisierten oder auch in der kollektiven Wahrnehmung stigmatisierten Regionen und Stadtteilen präsent – um ihren narrativen Dimensionen durch die Praxis des visuellen Kartografierens nachzuspüren und sie zu erweitern. Sie erkunden sie, wie die in diesem Buch angesteuerten Orte, in der Regel zu Fuss, aber auch aus der Distanz mittels Google Street View (wie für Konohana Dream, 2020) oder durch die Linsen
lokaler Fotograf:innen (wie für The Indian Defense, 2021).10
Ihre verschiedenen Projekte, die auf diesem assoziierenden Mapping basieren, sind inhaltlich und formal miteinander durch das künstlerische Langzeitprojekt La Cartographie Dynamique verknüpft. Wie die Peripheren können die darin versammelten Arbeiten stets für sich genommen betrachtet werden, weisen zugleich aber untereinander netzwerkartige Querverbindungen auf, die an unterschiedlichen Punkten des Arbeitsprozesses virulent werden, etwa während des Laufens oder während des Editierens oder Archivierens der Einzelbilder. So eröffnete zum Beispiel die Fährte des japanischen Anarchisten Ōsugi Sakae, der sich 1923 einige Tage in Paris aufhielt, eine historische Achse zwischen der französischen und der japanischen Hauptstadt, auf deren Grundlage wiederum Fragen nach (globalen) Protestkulturen und deren Rückwirkungen auf den urbanen Raum ins Blickfeld rückten, die (unter anderem) wieder nach Paris zurückführten, wo 2018 eine Arbeit anlässlich der Gelbwesten-Bewegung entstand (La Ville Lumière, 2021). Ein weiteres Beispiel für diese künstlerische Methode ist ihr aktuelles Projekt zur Neuen Seidenstraße, das unter anderem den Zugverkehr (und den damit verbundenen Warenverkehr) zwischen China und Deutschland behandelt und darüber Städte wie Chongqing, Wuhan, Mannheim und Duisburg verknüpft.
In dieser Arbeitsweise des fragenden, orientierenden, ergebnisoffenen Sich-Treiben-Lassens scheint der Geist des »Dérive« auf, des »Driftens«, das auf den Künstler, Autor und Filmemacher Guy Debord, Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale, zurückgeht. Mitte der 1950er Jahre entwarf er die Théorie de la Dérive (dt. Theorie des Driftens), um neue Sichtweisen auf städtische Räume zu eröffnen.11 Auf ihren Streifzügen, die auf diesem Mindset basieren, offenbaren sich den Künstler:innen häufig unerwartete Schnittmengen und Verknüpfungen zwischen geografisch und zeitlich disparaten Orten, Handlungen, Ereignissen und Akteur:innen, deren Spuren sie aufgreifen und transnational verflechten. Und gerade diese scheinbare Willkür der Gegenüberstellungen verweist schließlich umso vehementer auf die Verbindungslinien, die erst durch kartografische Praktiken artikuliert und verankert werden konnten, und damit auf die multiplen Machtdimensionen, die mit ihnen bis in die Gegenwart korrelieren.12