Night for Night by Maik Schlüter

Night for Night by Maik Schlüter
Die Nacht ist der dunkle Teil des Tages. Astronomisch betrachtet entsteht die Nacht durch die Rotation der Erde. Die Lichtgrenze, die wir Dämmerung nennen, das Auf- und Untergehen der Sonne, ist ein lokales Phänomen. Der Einbruch der Dunkelheit und schließlich die Nacht selbst, sind Taktgeber für unsere Organismen und eine stetige Stimulanz unserer Fantasie. Die Nacht ist alles zugleich: ein täglicher, unabänderlicher Rhythmus, ein banaler Wechsel der Lichtverhältnisse, aber auch ein mächtiges Bild, das kulturell, rituell oder ästhetisch aufgeladen und benutzt wird. Im Schutz der Dunkelheit geschehen Dinge, die bei Tag verboten sind, die Schwärze der Nacht kann zum Sog für Angst und Einsamkeit werden. Der Tag, als scheinbare Kehrseite, ist hell und geschäftig, die Menschen sind in ihrer Sichtbarkeit einer stärkeren Kontrolle unterworfen, als wenn sie zu nächtlicher Stunde zu Schatten und Schemen werden. Das Licht verleiht ihnen Kontrolle über alles Dunkle, Gefahrvolle und Unwägbare. Im hellen Licht der Sonne erscheint das Leben einfacher, klarer, im wahrsten Sinne des Wortes, aussichtsreicher. Denn die Nacht, eigentlich eine Zeit der Ruhe, ist auch ein Zeitraum der Gefahr. In der Tiefe der Nacht drohen Verbrechen und Eskapade, dringen Triebe an die Oberfläche, geraten zivile Standards ins Wanken oder erwachen die Geister. So wie die Vampire zu Staub zerfallen, wenn sie das Licht sehen, werden in unserer Vorstellungswelt mit Anbruch des Tages die Abgründe der Nacht vertrieben.
Die Nacht lässt sich beleuchten. Das nächtliche Licht ist aber keine Imitation des Tages. Künstliche Illuminationen und Expositionen sind Teil der Nacht: Straßenlaternen, Tankstellen und Raststätten, Leuchtreklamen und nächtliche Schaufenster oder der Lichtschein einer Wohnung gehören genauso dazu, wie das Licht von Scheinwerfern, Taschenlampen oder Blitzlichtern. Die Sichtbarmachung der Dunkelheit durch Licht ist in jeder Hinsicht eine Paradoxie, verdrängt und ersetzt das Licht doch die Dunkelheit. Aber in der illuminierten Auflösung liegt auch eine Betonung und Konturierung der Schwärze. Der physikalische Gegensatz ist umso mehr ein plausibles ästhetisches Mittel der Kunst. Ein Lichtkegel in dessen Schein Erzählung und Projektion, Mythos und Aufklärung wie aufgewirbelte Staubpartikel sichtbar werden. Das vor der Dunkelheit abgehobene Gesicht, der Körper im Raum, ein Spiel aus Schatten und Licht, aus Formen und Flächen und die Illusion der räumlichen Tiefe kennen alle bildnerischen Ausdrucksweisen gleichermaßen. Das Kino und die Fotografie der Nacht, als Genre und Thema, arbeiten sich entlang der Grenze von harten expressionistischen Schatten und Überblendungen, von Verzerrungen und Überhöhungen, von absoluter Schärfe und undeutlichen Details, die im Dunkel verschwinden.
Im Zeitalter des Black Screens eines beliebigen Displays, wirken solche Bilder der Nacht auch nostalgisch. Nacht und Dunkelheit sind in der digitalen Sphäre unendlich mehr als lediglich ein undeutlicher Raum. Wie ein schwarzes Loch invertiert und pervertiert die dunkle Seite der Technik unsere kulturelle Vorstellung von Nacht. Einerseits raubt das indirekte Licht der Geräte permanent die Dunkelheit, andererseits steht die Dunkelheit des Stromausfalls auch für ein Verschwinden der Welt, die sich im virtuellen Raum für viele

Menschen stärker manifestiert als in der Realität. Der Kälte und Einsamkeit einer schwarzen Spiegelung auf der Oberfläche einer digitalen Hardware und in den Untiefen der Software lässt sich nur die echte falsche Nacht künstlerischer Imagination entgegenhalten.
Was ist es anderes, wenn Oliver Sieber Menschen in der Dunkelheit porträtiert, ihre Gesichter ausleuchtet und sie im realen, aber nicht sichtbaren Raum einer unbekannten Stadt fotografiert? Ein Porträt in Zeiten des Lockdowns und der angedrohten Ausgangssperre? Eine Sozialstudie? Konzeptkunst? Der Titel „10 Minuten“ bildet den willkürlich gesetzten Rahmen für diese auf den ersten Blick glasklaren Fotografien, die auf den zweiten Blick schon opak erscheinen, um dann schließlich durch die Ersetzung des Positivs durch ein Negativ sich in ihrer Direktheit auflösen.
„10 Minuten“ ist zu aller erst ein fotografischer Raum und kein Genre oder typisch nächtliches Motiv. Siebers Arbeit markiert eher einen Abstand, der sich bildlich manifestiert zwischen dem Künstler, den Figuren und der Stadt und einer Technologie, deren Wesenszug die Kontrolle von Licht durch den Fotografen ist. Aber die Proportionen und Koordinaten sind unklarer als man denkt. Der hellste Punkt ist gleichzeitig der dunkelste. Das ist auch die Poesie des Lichtes, das leuchtet, obwohl es schon vergangen ist. Es aber vor allem die Auflösung der Dichotomie von Tag und Nacht, die in „10 Minuten“ sichtbar wird. Denn eigentlich herrscht immer Dunkelheit, wir sehen sie nur nicht. Die Paradoxien des Lichtes sind auch ästhetische Kategorien der Täuschung. So wie die im Spielfilm verwendete Technik des „Day for Night Shootings“ den Tag zur Nacht macht. Aber Lichtverhältnisse haben auch politische und soziale Dimensionen. Ähnlich wie in Paul Grahams Arbeit „American Night“, in der die soziale Wirklichkeit durch Überbelichtung zunächst verschwindet, um dann umso deutlicher hervorzutreten, kehrt Oliver Sieber durch eine Hell-Dunkel-Stilisierung und eine Negativ-Positiv-Umkehrung die scheinbar eindeutigen und sichtbaren Prämissen seines nächtlichen Motivs um. Er beleuchtet zwar die Nacht, löst sie aber nicht auf. Die Bilder sind ein schwarzer Spiegel mit all seinen Ungewissheiten und Verzerrungen. Die Blicke der Porträtierten laufen, wie bei einer Parallelprojektion in der Geometrie, unendlich lang nebeneinander her. Es gibt keinen gemeinsamen Fluchtpunkt. Der Tag wird künstlich zur Nacht. Die Nacht im Schein des Blitzlichts aber nicht zum Tag. Die Tonwerte werden vertauscht, das reicht schon, um die Orientierung zu verlieren. Für die Betrachter*innen treten Menschen und Objekte im Schein des Blitzlichts überdeutlich hervor. Das geblitzte Auge der Porträtierten aber sieht kurzfristig nichts. Das helle Licht wird für sie zur Dunkelheit.
Maik Schlüter, Dezember 2020