OLIVER SIEBER ALBUM
Grobspan
Album. Sammelalbum. Sammelbilder. „Oliver hat sein’s schon voll.” Menschen. Mehr als das: Gesellschaft. Ein Programm der Reduktion. In unserem Kopf: Dekompression. Die Welt wieder auffalten. Gerade weil sie ausgeschnitten sind, komplettieren wir die Figuren. Zum Beispiel: Ich stelle mir eine Straße vor. Ein Haus. Eine Haltestelle. Das steht sie-er, zeigt ihr-sein öffentliches Gesicht. Was heißt das? Eine bestimmte mittlere Anspannung. Eine Abwehr privater Impulse. Wir alle lauern auf Gelegenheiten, unsere eigenen Ansprüche zu verraten. „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.”? Nein.
Von Vorne. Ein junger Mann. „Blonder Junge Düsseldorf 2004”. Helles, strohiges Haar. Steht stabil, nicht Stand- und Spielbein: 2 x Stand. Grüne Turnschuhe, weißes T-Shirt. Eine weite Hose, die ihn proportional zehn Jahre jünger macht. Noch jünger. Er schaut ins Irgendwo. Die Art, wie er sich mimisch bedeckt hält – schimmert da Mißtrauen? Langeweile? Enttäuschung? – provoziert unsere Deutung. Er ist bei sich. Oder gerade nicht? Er könnte etwas sagen, denken, tun. Über die Straße gehen. Schon bald. Ich weiß nicht, was er getan haben wird. Ein geheimes Leben, das offen zu Tage liegt.
Eine ältere Frau „Sarajevo Februar 2014”. Die abgetragenen Schuhe haben einen Kunstpelzkragen. Der graue Mantel ist aus grobem Stoff gewirkt. Der Grüne Schirm, untergehakt am angewinkelten rechten Arm, harmoniert mit dem Halstuch. Ihre schwarze Tasche, halb hängt sie, halb sitzt sie auf dem Oberbauch, wird von der rechten Hand beschützt: „Ich habe sie.” In der Linken eine Zigarette, beinahe nur noch: Filter, zwischen Zeige- und Mittelfinger. Der kleine Finger berührt die Nase. Sie muss da eine Irritation abstellen. Ihre Haare wirken wie ein braun-graues Wolkenmassiv, seltsam entfernt von dem, was die Leute „Frisur” nennen. Aber es steht ihr. Ihr Gesicht ist eine offene Frage. Sie hat mit der Kamera nicht gerechnet. Aber das Bild ist nicht indiskret. Sie ist gefasst auf eine unspezifische Öffentlichkeit.
Die Bilder haben Kehrseiten. Buchstäblich. Wie nennt man diese Art der Faltung, Ent-Faltung? Hier tut sich ein Raum auf, der gewissermassen „backstage” ist – „so hat der Fotograf gearbeitet”. Ein Rollhintergrund an einer Stange. Ein mit Tape befestigtes Stück Stoff. Eine Plastikwanne mit Ablagerungen, typisch für Fotochemie. Ein Bild im Wasserbad, nach der Entwicklung. Ein Buch. Der Verweis auf eine andere Arbeit. Ein „vor dem Bild”, ein „nach dem Bild”. Meta. Manchmal überblättert man die abgewandten Seiten, und kehrt dann zurück. Auch die Zeit faltet sich. Die moderne Architektur, sagt man, hat ein Problem mit Rückseiten. Die meisten Fotobücher kennen nur ein Vorderhaus. „Im Hof” wird Album noch mysteriöser. Das ist es, was mich an dem Projekt fesselt: ein Geheimnis ohne mysteriöse Zutaten. „Die Kategorie Zusammenhang ist immer in der Krise” (A. Kluge).
Noch ein Bild: „Herr Williams Düsseldorf 2002”, für mich eine Art Magnetpol des Buches. Die braune Uniform des Paketzustellers ist ikonisch. Fast scheint sie den Mann zu tragen, der sich darin befindet. Nur sein Gesicht wartet ab, mit einer Würde, die nicht uniform ist. Kein Haar trübt den Glanz des Kopfes. Ein Oberlippenbart in Form einer geschweiften Klammer verdoppelt die lippentrennende Linie. PoC. Ein beringter Ringfinger an der linken Hand. Die Hände spannungslos, bereit. Ich kann mich nicht sattsehen, aber zum Verzehr gibt sich das Bild nicht her.
Blättere ich hinter den Mann, erwartet mich eine Stadtlandschaft, „Chicago South”. Ein klassisches amerikanisches Haus, Giebel, parallele, „skandinavische” Beplankung, im Hintergrund von ziegelroten „Projects” überragt, die Fenster mit aus Holzresten verpressten Platten verbarrikadiert, „Schadstoffreste im Bindemittel”, Schnee auf der Brache davor, das weich verzeichnete Drahtgitter im Vordergrund, das nicht „das Bild gesund macht” (wie ein dummer Fotografenspruch lautet), aber zur still gestellten Hoffnung passt. Was hat das mit Herrn Williams aus Düsseldorf zu tun? Wir erfahren es nicht. Trotzdem beeinflussen sich die Bilder. Es entsteht ein Konvolut im Kopf, ich suche Anschlüsse, assoziiere. Zum Beispiel ist auch die Bankfiliale in Paris vernagelt mit ähnlichen, spleissigen Grobspanplatten. Und gehört die „Kassette 2018” in die „Kassettenhülle 2018”, die so schön irisiert? Beim Blättern denke ich nun schon das zweite Mal beim Bild eines Bildes unter Wasser: ob der abgebildeten Frau nicht kalt ist? Wir sind alle Animisten, bereit, das Unbelebte zu beleben.
Was sich der Künstler gedacht hat? Die versammelten Indizien sind vieldeutig. Aber je länger ich das Buch betrachte, desto mehr ist es mein Album. Es braucht mich, mutet mir Lücken zu, groß genug für Abschweifungen, die zur dritten Rückseite der Bilder werden. Das Hergestellte thematisiert sich. So entsteht ein poröses Bild von Gegenwart, verpresste Splitter, „Grobspanfotografie”.
Christoph Hochhäusler, Juni 2021