by Kerstin Stremmel
Der tote Blick
An den Grenzen der Fotografie
ich bin doch der Blinde
darum führe mich,
du kannst im Dunkeln gehen
(Klaus Hoffmann: Blinde Katharina)
Julia hat die Augen geschlossen. Mit leicht nach rechts geneigtem Kopf scheint sie konzentriert und gelassen, ob sie – wie bei jenem Kinderspiel – denkt, sie könne nicht gesehen werden, weil sie nicht sieht? Spielt sie mit ihrem imaginären Betrachter, dessen Blick so lange auf ihrem Gesicht ruhen kann, wie er möchte? Das kann eine Weile dauern, denn so sehr das Mädchen in sich zu ruhen scheint, so viel gibt es darüber hinaus zu beobachten; der sehende Betrachter begnügt sich nicht mit einem kurzen Blick, geht nicht auf das Spielangebot der Dargestellten ein, er tut, was er immer tut: entdeckt Details, stellt fest, dass die Fleece-Jacke in zwei Grünnuancen perfekt mit ihrem hellen Teint und den roten Haaren harmoniert, sucht den Gesichtsausdruck zu fassen und herauszufinden, was die Dargestellte denkt, in welcher Verfassung sie ist. Wie insistierend dieser Blick ist, wird spätestens beim Betrachten weiterer Fotografien der dreißigteiligen Serie von Oliver Sieber deutlich, deren Titel „Die Blinden“ ist. Blind sind die Portraitierten und blind, so ein alter Topos der Kritik an der Fotografie, ist auch dieses Medium, dessen technisch gelungene Abbildung zwar eine „äußere Ähnlichkeit der Gesichtszüge“ erreicht, jedoch ganz der Beliebigkeit der zufälligen Erscheinung eines Gesichtsausdrucks verpflichtet bleibe.
Wie viel Informationen kann man einem Portraitfoto entnehmen? Trotz der Größe von je 46,5 x 56,5 cm erinnern die Aufnahmen von Oliver Sieber in Ausschnitt und Machart an Passfotografien mit ihrer Ähnlichkeitsbehauptung. Spätestens Taryn Simon hat uns wieder daran erinnert, wie problematisch Identifizierungen sind, ihre Arbeit zum Thema unschuldig Verurteilter hat in jüngerer Zeit den Blick auf den Mythos der vermeintlich präzisen Erfassungsmöglichkeit gelenkt, der der Fotografie noch immer anhaftet. Die Nachwehen physiognomischer Lektüren mit ihrem hypertrophen Glauben an mögliche Zuschreibung von Charaktermerkmalen aufgrund des äußeren Erscheinungsbilds sind allerdings in der Fotografie noch immer zu spüren, nur die klügeren unter den Interpreten waren stets an einer umfassenderen Physiognomik interessiert, die sich weniger auf das Gesicht als authentischem Sitz von Bedeutung, als auf Details der Körperhaltung, der Kleidung etc. berief, Dinge, die in Siebers anderen Serien, wie etwa Teds und Mods, eine wichtige Rolle spielen. Was also ist noch möglich an Erkenntnisgewinn, bei einer Beschränkung auf Gesichter, in einer Zeit, in der wenig allgegenwärtiger und alltäglicher ist als das fotografische Bild vom Menschen?
Bei allem Zweifel an der künstlerischen Qualität des fotografischen Mediums sprach immer das Ähnlichkeitsmoment für die Fotografie, verbunden mit einer gewissen Grundangst, die Seele könnte dem Fotografierten beim Aufnehmen geraubt werden, jedes Bild sei ein Übergriff, ein kleiner Tod, jener Moment, in dem man weder Subjekt noch Objekt ist, sonder ein Subjekt, das sich Objekt werden fühlt. Zugleich keimte stets der Verdacht, sie sei ein unzureichendes Mittel der Erfassung komplexer Persönlichkeiten. Von Beginn an wurde der Fotografie wenig zugetraut, sie sei, so ein Topos des 19. Jahrhunderts, ein toter Spiegel, ihr so genannter toter Blick sei nicht fähig, so emphatisch wie die Malerei ihr Sujet anteilnehmend ins Bild zu rücken. Fotografen haben immer wieder versucht, diesen Mangel zu beheben, der vergleichende Blick, basierend auf einem soziologischen Ansatz, wurde eine der etablierten Möglichkeiten, dem Aussagemanko zu begegnen.
In dieser Tradition bewegt sich Oliver Sieber. Seine dreißig präzisen Portraits geben einen Eindruck von der Komplexität seines Themas. Habitus und Ausstrahlung der Portraitierten unterscheiden sich stark voneinander. Sieber arbeitet stets themenspezifisch und konzentriert sich bei dieser ausgewählten Gruppe von Menschen, ebenso wie in seinen Serien über Jugendkulturen, über einen bestimmten Zeitraum auf das einmal gewählte Thema, auf die Protagonisten seiner Aufnahmen. Wichtig sind dabei für den Fotografen nicht allein die facettenreichen Gesichtsausdrücke, sondern auch andere Auswahlkriterien. So sind Menschen verschiedenen Alters fotografiert, von Geburt an Blinde ebenso wie jene, die durch einen genetischen Defekt im Lauf der Jahre erblindet sind, aber auch Menschen, die durch einen Unfall oder Schock ihre Sehfähigkeit verloren haben. Siebers Versuch, einen repräsentativen Querschnitt einer bestimmten Gruppe von Menschen zu erfassen, sein Wunsch nach Systematik, will einen Überblick ermöglichen, der sich aus genauer Beobachtung speist.
Implizite Komplizenschaft
Allen Bildern Sieberts gemeinsam ist, dass er sich Zeit gelassen hat, was im fotografischen Ergebnis dazu führt, dass die sachlich und präzise, stets vor neutralem Hintergrund fotografierten Personen nicht exponiert wirken, sondern aufmerksam, als seien sie noch immer in das geführte Gespräch vertieft. Sie scheinen nicht gefangen in einer Welt, zu der Sehende keinen Zutritt haben, statt dessen stellen sich beim Betrachter Zweifel hinsichtlich seiner eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten ein.
Geht man doch bei gelungener Portraitfotografie davon aus, dass intensiver Blickkontakt von Fotograf und Fotografiertem sich im Bild niederschlägt, wodurch spätere Betrachter sich angesprochen fühlen, da sie diesen Blickwechsel nachzuvollziehen glauben. Bei diesen Portraits hingegen erfolgt kein imaginierbarer Gegenblick, die Augen der Portraitierten sind versiegelt, auch wenn sie nicht, wie bei Julia, geschlossen sind. Der blinde Fotograf Evgen Bacvar hat im Hinblick auf seine Bilder von Sehenden einmal gesagt, dass die Menschen wegen der Abwesenheit des Auges des Fotografen anders erscheinen: „Als fotografierte Objekte können sich meine Modelle nicht so präsentierten, wie sie es gewohnt sind, denn es fehlt die implizite Komplizenschaft mit einem Fotografen, der sie in ihrem Narzissmus bestätigt.“ Tatsächlich ist das jedoch an den Bildern schwerlich ablesbar, Sehende posieren, egal ob der Fotograf blind ist, egal auch, für welchen Zweck das Bild gemacht wird. Ein herzzerreißendes Beispiel dafür sind die Portraits jener Gefangenen in Phnom Penh, die vor ihrer Hinrichtung aufgenommen wurden und die den Reflex, in die Kamera zu lächeln, nicht unterdrücken können. Stets sucht sich der Portraitierte, jedenfalls wenn man Roland Barthes Glauben schenken will, bereits im voraus in das Bild zu verwandeln, das von ihm gemacht wird: „Könnte ich doch auf dem Papier gelingen (…) mit edler Miene, versonnen, intelligent und so weiter.“
Bei den Blinden, die Sieber portraitiert hat, ist der Vorgang genau entgegengesetzt zu dem Verfahren von Evgen Bavcar, und doch hält man den sehenden Fotografen nicht für privilegiert, sondern ist erstaunt über das Selbstbewusstsein, mit dem die Portraitierten dazu bereit sind, sich den Betrachterkriterien zu stellen. Die Möglichkeit sentimentaler Gebrauchsweisen, die im Umgang mit Fotografien geliebter Menschen zum Ausdruck kommt, oder die Selbstvergewisserung durch Überprüfung des eigenen Bildes sind für die Dargestellten keine Option. Sie stellen sich einem Fotografen, dessen bisherige Serien sehr viel mit Äußerlichkeiten zu tun haben, jene bereits erwähnten Teds und Mods, bei denen Frisuren und Styling eine entscheidende Rolle spielen, stärker vielleicht noch die Portraitierten der Serie „Boy meets girl“ über Geschlechterwechsel und Transformationen, die verdeutlichen, wie stark sich Identität über das Aussehen definieren kann.
Anders Sehen
Auch bei „Den Blinden“ macht sich der Betrachter auf die Suche nach Kleidercodes, Farben oder Logos, und eine gewisse Rolle können diese Kriterien auch für Blinde spielen, damit die Außenwahrnehmung in ihrem Sinne ist. So hat die Kolumnistin der britischen Tageszeitung Guardian, Rebecca Atkinson, die unter „Retinitis Pigmentosa“ leidet, beschrieben, dass sie bisweilen im Geist die Liste ihrer Freunde durchgeht, und überlegt, auf wessen Urteil sie später beim Einkaufen und Stylen vertrauen kann, da sie davon ausgeht, auch nach ihrer vollständigen Erblindung weiterhin nach ihrem Aussehen beurteilt zu werden. Doch das ist eine Konzession an Kriterien, die für die Blinden selbst keine Rolle mehr spielen. Sie müssen, und daran denkt man unwillkürlich beim Betrachten der Bilder, andere und vielleicht sensiblere und weniger klischeehafte Wahrnehmungsmöglichkeiten haben. Im Vertrauen darauf, wie wenig sie von sich preisgeben, bewahren sie auf den Bildern von Sieber ihre Gelassenheit.
So wird bei diesen Bilder wie bei wenigen deutlich, wie begrenzt die Möglichkeiten fotografischer Welt- und Menschenerfassung sind. Die glatte und hermetische Oberfläche der Aufnahmen richtet sich nicht an die Portraitierten, sondern an die Betrachter. Wie wichtig die Rolle der Portraitierten ist, wird bei jedem Foto offensichtlich. Der alte Vorwurf des toten Blicks der Fotografie wird entkräftet, indem weniger das Endergebnis als der Prozess ihrer Entstehung ins Bewusstsein gerückt wird. Möglich sind diese Bilder, die keine gestohlenen sind, nur aufgrund von Kommunikation. Und zur Kommunikation verführen sie, statt das Sichtbare zu bestätigen – eine andere Art der Annäherung an die Realität.